
Resonanz als Führungsprinzip – Wie wir berühren, ohne zu dominieren
18. August 2025Es gibt Momente in Führung, die sich einbrennen. Zum Beispiel, wenn ein Mitarbeiter nach einem Gespräch sagt: „Ich habe mich zum ersten Mal wirklich gesehen gefühlt.“ Oder wenn in einer Runde jemand plötzlich offen über Zweifel spricht – und das Team aufmerksam und ehrlich zuhört. Solche Momente sind selten. Aber sie haben Kraft. Sie verändern etwas.
Diese Augenblicke sind nicht planbar, aber sie können ermöglicht werden. Als Führungskraft können Sie den Raum schaffen, in dem echte Begegnung wieder möglich wird – auch unter den täglichen Anforderungen und inmitten aller Komplexität. Dafür braucht es zwei Dinge: Resonanz und Demut.
Warum Resonanz heute wichtiger ist als je zuvor
Hartmut Rosa beschreibt unsere moderne Welt als eine, die durch Beschleunigung gekennzeichnet ist. Und das betrachtet er per se nicht als etwas Schlechtes. Schließlich möchte niemand eine Verlangsamung, wenn wir an medizinische Innovationen, an die Feuerwehr oder an die Nutzung des Internets denken. Allerdings geraten wir in einen Prozess, in der wir uns die Welt nicht mehr wechselseitig aneignen können, sondern sie kontrollieren müssen. Gleichzeitig versuchen wir, alles verfügbar zu machen: Zeit, Menschen, Ergebnisse. Diese Logik des Beschleunigens und Optimierens erzeugt eine Beziehung zur Welt, die Rosa als „stumm“ beschreibt: Die Welt antwortet nicht mehr. Wir „erreichen“ sie zwar – aber sie spricht nicht zurück.
Führung in dieser Welt wird oft zur Steuerung unter Komplexität. Es gilt, Ressourcen zu verwalten, Ziele zu erreichen, Menschen zu motivieren. Doch etwas fehlt: Lebendige Beziehungen, die nicht nur funktional, sondern transformativ sind, die verändern, was ist.
Resonanz ist dabei nicht Harmonie. Im Gegenteil: Sie entsteht gerade durch Reibung, durch Nichtverfügbarkeit, durch das Zulassen von Fremdheit. Eine Führungskraft, die resonant führt, hört nicht nur, sondern lässt sich treffen. Sie stellt sich dem Risiko, dass ein Gespräch sie verändern könnte.
Führung heißt: Ich bin nicht allwissend – und das ist gut so
Edgar H. Schein, ein Pionier der Organisationsentwicklung, nennt das demütige Führung. Damit meint er nicht, sich klein zu machen. Eine demütige Führungskraft weiß: Ich habe nicht auf alles eine Antwort. Ich muss nicht der* oder die* Stärkste im Raum sein. Aber ich kann zuhören, ich kann lernen, ich kann Verbindung schaffen.
In Zeiten von hoher Komplexität ist das ein echter Vorteil: Denn niemand kann heute alles allein wissen oder steuern. Wenn Sie sich trauen, Fragen zu stellen – echte Fragen, nicht nur rhetorische –, laden Sie andere ein, mitzudenken. Das motiviert, macht die Teams stärker und führt zu besseren Ergebnissen.
Demut bedeutet also nicht Rückzug, sondern bewusste Stärke. Sie trauen Ihrem Team etwas zu. Sie geben Raum, ohne sich zu entziehen.
Resonanz ist keine Nettigkeit – sie fordert Sie heraus
Resonanz entsteht nicht durch Harmonie oder gute Stimmung. Sie braucht Echtheit. Und das ist manchmal unbequem. Wer wirklich zuhört, riskiert, etwas zu hören, das irritiert. Wer offen ist, zeigt sich verletzlich. Und wer mit anderen in Beziehung tritt, kann nicht alles kontrollieren. Und genau hier kommt das Konzept der psychologischen Sicherheit ins Spiel, wie es Amy Edmondson erforscht hat: Nur dort, wo Menschen sich sicher fühlen, können sie sich auf Resonanz einlassen.
In einem Workshop mit einem Führungsteam eines Medizintechnikunternehmens, der draußen im Wald stattfand, entstand nach einiger Zeit eine besondere Stimmung. Es ging nicht mehr nur um Prozesse und Strukturen. Menschen fingen an, wirklich zu sprechen – über Zweifel, über Stolz, über die letzten zwei Jahre. Eine Führungskraft sagte am Ende: „Ich wusste gar nicht, wie viel Stille wir bisher ausgehalten haben, ohne dass sie etwas verändert hat. Jetzt fühlt es sich anders an.“
Das war ein Resonanzmoment. Und er war nur möglich, weil Raum da war. Weil kein Druck war, liefern zu müssen. Weil jemand angefangen hatte, ehrlich zu sprechen.
Was das konkret für Sie als Führungskraft bedeutet
Zunächst: Resonanz und Demut sind keine Tools. Sie sind Haltungen. Sie können nicht verordnet werden – aber sie können geübt werden. In der Art, wie wir zuhören, wie wir Meetings gestalten, wie wir mit Kritik umgehen, wie wir Rückmeldungen geben – und empfangen.
Hartmut Rosa beschreibt vier Merkmale von Resonanz, die Sie gut auf Führung übertragen können:
1. Erreichbarkeit: Sind Sie wirklich ansprechbar? Können andere Sie ehrlich erreichen?
2. Antwort: Reagieren Sie offen und authentisch – oder nur mit vorgefertigten Botschaften?
3. Veränderung: Lassen Sie zu, dass Gespräche Sie bewegen – oder bleiben Sie im Sendemodus?
4. Unverfügbarkeit: Akzeptieren Sie, dass echte Verbindung nicht erzwungen werden kann?
Demut hilft dabei, diese Resonanz zu ermöglichen. Sie sorgt für eine sichere Atmosphäre, in der andere sich trauen, mitzudenken und sich einzubringen – auch mit Unsicherheiten.
Führung braucht heute Beziehung – und das ist Ihre Stärke
In der modernen Führung geht es nicht mehr nur um Steuerung und Zielvorgaben. Es geht darum, Räume zu schaffen, Haltung zu zeigen, sich und anderen zu vertrauen. Resonanz und Demut sind keine schnellen Lösungen. Aber sie bieten eine Möglichkeit, Beziehung in Organisationen neu zu denken – nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Kern von Führung. Denn Führung ist nicht das, was wir tun. Sondern das, was zwischen uns entsteht.
Was Sie tun können – erste konkrete Schritte für resonanzfähige Führung
- Echtes Zuhören üben
Nehmen Sie sich bewusst Zeit für Gespräche ohne Agenda. Hören Sie, was wirklich gesagt wird – nicht nur das, was Sie erwarten. Fragen Sie nach. Lassen Sie Pausen zu. - Fragen stellen, nicht nur Antworten geben
Nutzen Sie das Prinzip von Edgar Schein: Fragen Sie neugierig, nicht kontrollierend. Zum Beispiel: „Wie würdest du das lösen?“ oder „Was braucht es aus deiner Sicht?“ - Räume für Begegnung schaffen
Wechseln Sie den Ort: Gehen Sie mit Mitarbeitenden spazieren. Verlegen Sie schwierige Gespräche nach draußen. Draußen sprechen wir oft anders – echter. - Reflektieren Sie regelmäßig Ihre Haltung
Fragen Sie sich: Wann war ich zuletzt echt berührt in einem Gespräch? Was hat mich abgehalten, resonant zu sein? Was kann ich loslassen, um anderen Raum zu geben? - Psychologische Sicherheit fördern
Achten Sie auf Signale: Werden im Team kritische Punkte offen angesprochen? Machen Sie Fehler sichtbar – auch Ihre eigenen. Zeigen Sie, dass Offenheit nicht bestraft wird, sondern willkommen ist.Langsamkeit zulassen
Resonanz braucht Zeit. Nicht jedes Meeting muss effizient sein. Lassen Sie am Anfang Raum für Befindlichkeiten. Ein kurzes Check-in („Was beschäftigt euch gerade?“) kann viel bewirken.
Literaturhinweise
Edmondson, A. C. (2020). Die angstfreie Organisation. München: Vahlen.
Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
Schein, E. H. (2013). Humble Inquiry. The Gentle Art of Asking Instead of Telling. San Francisco: Berrett-Koehler.
Martin Lindner