Systemisches Konsensieren – Selbstorganisation und Agiles Arbeiten fördern
08. November 2021Systemisches Konsensieren: die Entscheidungskompetenz im Team stärken
„Erst diskutierten wir endlos, dann wollte sich keiner mehr festlegen, die Stimmung wurde immer schlechter, die Motivation sank, und gleichzeitig wurde der Druck von außen auf unser Team immer größer!“
Agilen und selbstorganisierten Teams wird zunehmend mehr Entscheidungskompetenz zugeschrieben – aus gutem Grund: autokratische Entscheidungen sind fehleranfällig. Sie werden auf der Basis einer einseitigen Betrachtung der Entscheidungssituation gefällt. Durch die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven in die Lösungsfindung können tragfähigere und nachhaltigere Lösungen gefunden und Verzögerungen durch das „bottle neck“ Chef verringert werden.
Geht mit der Implementierung agiler Projektstrukturen aber nicht auch gleichzeitig eine Veränderung der Entscheidungskultur einher, kann es schnell zu ähnlichen Aussagen wie oben kommen. Wenn dann noch der Wunsch nach Entlastung durch den eigentlich überholten Chef-Entscheid aufkommt, können agile Projekte schnell in der Sackgasse landen.
Systemisches Konsensieren kann hierbei Abhilfe schaffen.
Entscheidungskultur: ein wesentlicher Faktor beim Übergang zu Agilität und Selbstorganisation
Die Implementierung agiler Arbeitsformen erfordert unter anderem auch einen Wandel der Entscheidungskultur. Denn was ist zunächst zu erwarten von Teams, die sich unvorbereitet mit einem Zuwachs an Entscheidungskompetenz konfrontiert sehen?
Erste Falle: Die Suche nach dem Konsens
Zu Beginn der Arbeit in agilen Teams entsteht der Wunsch, Entscheidungen möglichst im Konsens zu treffen. Alle sollen sich einig sein. Alle sollen einer Entscheidung bedingungslos zustimmen. Agile Teams fallen häufig in die klassische Konsensfalle. Lösungen im Konsens lassen sich aber nur selten finden. Die Suche nach dem Konsens ist zäh und belastend für die Beteiligten. Fast immer führt sie zu einer enormen Verlangsamung der Prozesse, Störungen sind vorprogrammiert.
Zweite Falle: Der Mehrheitsentscheid
Spätestens wenn die mühsame Suche nach dem Konsens scheitert, greifen agile oder selbstorganisierte Teams und auch Führungsteams nach der Methode, die uns allen schon seit der Kindheit antrainiert wurde: dem klassischen Mehrheitsentscheid. Ob Zuhause bei der Frage, welchen Film wir schauen oder in der Schule, bei der Frage, wer Klassensprecher wird. Auch in Konzernen und in der Politik hört man kaum von anderen Entscheidungsverfahren. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Mehrheitsentscheide die beste und schnellste Methode ist, um eine gute Entscheidung herbeizuführen. Dabei ist der Mehrheitsentscheid die Methode, welche die meisten Verlierer hervorbringt. Viele Perspektiven und Ideen bleiben bei diesem Vorgehen ungehört. So kann sich, wenn zehn Personen über drei Vorschläge entscheiden, der Vorschlag mit vier Stimmen durchsetzen. Die Mehrheit der Abstimmenden – hier also sechs Personen – können sich als Verlierer fühlen. Das daraus resultierende Konfliktpotential bleibt aber unbekannt. Typische Reaktionen können Lagerbildung, Polarisierungen, Sabotagen sein. Oft wird an der getroffenen Lösung nicht mit Motivation gearbeitet. Tritt der gewünschte Erfolg nicht ein, fühlen sich diejenigen, die gegen die Entscheidung gestimmt haben, bestätigt: „Wir haben es ja gleich gesagt“!
Ziel des Mehrheitsprinzips ist es, den anderen zu überstimmen. Es wird ein Gegeneinander erzeugt. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!“ Vielschichtigkeit und Kreativität gilt es zu bekämpfen statt zu nutzen.
Bei allem guten Willen wirken diese Prinzipien des Mehrheitsentscheides auch in agilen Teams. Die Folgen können nur durch einen Mehraufwand an Kontrolle eingedämmt werden, was wiederum der Entwicklung einer agilen Kultur diametral entgegensteht.
Das wirft die Frage auf: ‚Was brauchen Mitarbeiter*innen in agilen Teams, damit sie die erweiterte Verantwortung aktiv annehmen und tragfähige Entscheidungen in der Gruppe auch produktiv treffen können? Was brauchen aber auch Führungskräfte, um gemeinsam zu Entscheidungen mit höherer Akzeptanz und damit mehr Nachhaltigkeit zu kommen?‘
Systemisches Konsensieren und das SK-Prinzip – ein Ausweg aus den Fallen
Der Wandel der Entscheidungskultur kann nur durch ein Prinzip beschleunigt werden, dessen Anwendung auf der Integration von Diversity beruht. Das SK-Prinzip ist eine Haltung, die Widerstand ernst nimmt und als kreatives Potential nutzt. Teil dieser Haltung ist die Achtung vor dem eigenen „Nein“ und dem „Nein“ anderer Menschen. Die Anwendung des SK-Prinzips ist geprägt durch das Vertrauen auf die Möglichkeit, für alle tragfähige Lösungen finden zu können: Mit der Methode des Systemischen Konsensierens wird diese Haltung zum Ausdruck gebracht.
Das Systemische Konsensieren ist eine Methode, mit der bei einer Ausgangslage von unterschiedlichen, sich teils auch widersprechenden Interessen, Entscheidungen mit einem Höchstmaß an Akzeptanz gefällt werden können. Dabei kann Konsens erzielt werden. Er ist aber nicht die Voraussetzung für eine Entscheidung. Die Nähe zum Konsens wird über den Gruppenwiderstand gemessen. Einwände sind aber willkommen, weil sie helfen, die Lösung zu verbessern. Wie mit Einwänden umgegangen wird, wirkt sich auch auf die Akzeptanz der Lösung und letztlich auf die Umsetzung der getroffenen Entscheidung aus. Das Systemische Konsensieren unterstützt eine Kulturveränderung hin zu mehr Beteiligung, Verantwortung und Kooperation. Eigeninteressen bleiben gewahrt, werden aber nicht mit Macht durchgesetzt. Die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Betroffenen und das Sammeln von Ideen zur Umsetzung sind Erfolgskriterien. Konsensierte Lösungen gewährleisten ein hohes Maß an Motivation bei der Umsetzung.
Systemisches Konsensieren – so funktioniert die Methode
Mit Hilfe des Systemischen Konsensierens können beliebig viele Personen über beliebig viele Vorschläge entscheiden. Die Vorschläge werden jeweils einzeln mit Widerstandspunkten bewertet: „0“ Punkte bedeutet: „Ich habe keinen Widerstand gegen den Vorschlag“, „10“ Punkte bedeutet: „Ich habe maximalen Widerstand gegen den Vorschlag“. Der Vorschlag mit den geringsten Widerstandspunkten ist angenommen. Essentiell bei dem Verfahren ist jedoch immer, dass die hohen Widerstände, die sich in einer ansonsten akzeptierten Lösung finden, angehört werden und der Vorschlag möglichst so modifiziert wird, dass sich die Akzeptanz für die Lösung erhöht.
Die unterschiedlichen Formen des Systemischen Konsensierens
Schnellkonsensieren
Dies führt zu einem schnellen Entscheid bei einfachen Fragestellungen. Ein Vorschlag wird eingebracht, und die Frage nach Einwänden gestellt. Beispiel: „Lasst uns das Meeting heute um eine halbe Stunde verlängern!“. Gibt es keine Einwände, ist der Vorschlag angenommen. Gibt es einen Einwand, werden weitere Vorschläge formuliert. Außerdem kommt die sogenannt „Passivlösung“ („wir machen weiter wie geplant“) mit auf die Auswahlliste. Die Entscheidung wird durch Schnellkonsensieren gefällt. Widerstand wird per Handzeichen gegeben: zwei Hände vorne= großer Widerstand, eine Hand vorne = mittlerer Widerstand, keine Hand vorne = kein Widerstand, der Vorschlag mit dem geringsten Widerstand ist angenommen.
Auswahlkonsensieren
Bei klar formulierten Alternativen wird eine möglichst konsensnahe Lösung gesucht. Beispiel: es gibt fünf Vorschläge zur Gestaltung der Weihnachtsfeier. Auf einer Skala von 0-10 werden die Vorschläge von jedem Teammitglied bewertet: 0 Punkte für einen Vorschlag bedeutet maximale Akzeptanz, 10 Punkte für einen Vorschlag bedeutet höchstmöglicher Widerstand. Der Vorschlag mit dem geringsten Widerstand kommt dem Konsens am nächsten, und ist angenommen.
Vertieftes Konsensieren
Ein sensibler Prozess zur Entwicklung möglichst vieler Alternativen und zur Entscheidungsfindung für den Vorschlag mit höchster Akzeptanz. Beispiel: Umbau einer größeren Bürofläche zu Shared Desks, Ruhezonen, Lounges etc. Ein insgesamt 13-stufiger Prozess führt zunächst zu geeigneten Vorschlägen, dann zu einem Maximum an Informationen über die Lösungsmöglichkeiten und deren Vor- und Nachteile. Auf der Basis der Informationen wird dann die Alternative mit der höchstmöglichen Akzeptanz konsensiert.
Kooperative Entscheidungsempfehlung
Liegt die letztendliche Entscheidung bei der Führungskraft, kann das Ergebnis des Systemischen Konsensierens auch als Entscheidungsempfehlung genutzt werden. Das Ergebnis ist dann für die Führungskraft nicht bindend, sie muss aber eine andere Entscheidung vor dem Team begründen.
Systemisches Konsensieren ist einfach zu erlernen – die Qualifikation
Die Methode des Systemischen Konsensierens ist kein Hexenwerk. Das Schnellkonsensieren und das Auswahlkonsensieren erfordern keine externe Moderation. Beide Ansätze können von Teams oder Führungskräften in 1- 2 Workshoptagen erlernt und dann eigenständig umgesetzt werden.
Das Vertiefte Konsensieren erfordert einen intensiveren Lernprozess, um das Vorgehen des 13-stufigen Entwicklungs- und Entscheidungsprozesses einzuüben und den Fallstricken ausweichen zu können. Da es sich bei dem Vertieften Konsensieren um einen sensiblen Moderationsprozess handelt, ist dabei oft externe Begleitung angeraten.
In jedem Falle erfordert die Arbeit mit dem SK-Prinzip die Bereitschaft zur Kulturveränderung, die Bereitschaft zu mehr Initiative und Verantwortungsübernahme auf der einen, und zum Abschied von alleiniger Entscheidungskompetenz auf der anderen Seite. Da beide Verhaltensmodifikationen auch die Voraussetzung zur Implementierung agiler Arbeitsformen sind, scheint es gut zu „matchen“: das SK-Prinzip und Agiltät passen zueinander!